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Hauptausstellung

Samstag, 18. Februar 2023–Mittwoch, 15. März 2023

«My Great Confession» von Nancy Peroni-Frei

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«We tell ourselves stories in order to live» – Joan Didion, 2006. In diesem Sinne hat Nancy Peroni- Frei eigens für den Kunstraum CRMI eine Arbeit entwickelt, die sich mit der Kunst der Selbstpreisgabe auseinandersetzt. Sie fragt nach dem Wahrheitsgehalt unserer „Lebensgeschichte“ und den Möglichkeiten, mit dieser Erzählung zu spielen.
Aufgewachsen im ländlichen Texas hat sich die Künstlerin schon früh mit der Idee der Beichte und deren ambivalenter Wirkung auf die Selbstwahrnehmung beschäftigt. Für die Ausstellung «Great Confession» verwandelt sie die Ausstellungsräume in einen Ort, der die Besucher:innen zu “grossen Geständnissen“ und kleinen Verwandlungen einlädt.

Während vier Wochen können die Besucher:innen der Ausstellung als fiktive oder reale Personen ihre Geständnisse ablegen und ihre Geschichte in Worte fassen. Die auf Schreibmaschinen entstehenden Texte sind anonym und werden von ihren Verfasser:innen in einen Sammelbehälter geworfen.
Am 15. März, also am Ende der Ausstellung, wird dieser Behälter geöffnet und das gesammelte Material wird von einer Schauspielerin in aller Öffentlichkeit nahtlos vorgetragen. Und danach verbrannt. Aus den Einzelgestädnissen entsteht somit eine Kollektivbeichte – eine neue Person wird geboren. Woraus?

ANWEISUNG FÜR DIE BESUCHER:INNEN:

Bitte warten Sie hier, bis eine Kammer frei wird.

Legen Sie Ihr Geständnis ab. Sie dürfen sich so lange wie nötig zurückziehen.* 

Stören Sie die anderen Schreibenden nicht. 

Während der Schreibarbeit werden Getränkewünsche entgegengenommen und nach Möglichkeit verwirklicht.

 

* Falls Sie Hilfe benötigen bei der Bedienung der Schreibmaschine, wenden Sie sich an das CRMI-Personal.

 

LITERARISCHE VERORTUNG* DURCH ELIA AUBRY

Ich will mich schämen hier vor euch.

Gestern habe ich einem Blinden ein Bein gestellt. Aber hiervon später.

Liebes Publikum

Es sind nicht die Augen. Es sind eure Blicke. Der Fremde Blick ist ein Spiegel. Wir erkennen uns selbst darin. Blicke bringen einen zu Fall. Stück für Stück. Glaubt mir, es ist besser so.

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18.02.2023

Ich will mich schämen hier vor euch.

von Elia Aubry

 

Gestern habe ich einem Blinden ein Bein gestellt.
Aber hiervon später.

Liebes Publikum

Es sind nicht die Augen. Es sind eure Blicke. Der Fremde Blick ist ein Spiegel. Wir erkennen uns  selbst darin. Blicke bringen einen zu Fall. Stück für Stück. Glaubt mir, es ist besser so. Es ist besser, stehe ich nicht vor euch. Ihr würdet das nicht wollen. Diesen peinlichen Zusammenbruch. Würdet ihr nicht wollen. Das Zittern. Das Röcheln am Ende. Die krampfhaften Bewegungen. Würdet ihr nicht wollen. Die Plötzlichkeit der Aufbäumung dann. Die Blutunterlaufenen Augen. Ihr wärt meinem Blick nicht gewachsen. Ihr würdet…Stop. Keine Grobheiten jetzt. Ihr würdet euch fürchten. Bestimmt würdet ihr euch fürchten. Ist das nicht furchtbar?

Um meine Augen hat sich ein böser Schatten gelegt. Abends wenn die Nacht den Tag würgt, wird mein Körper von dunklen Kräften durchfahren. Später erinnere ich mich jeweils an nichts. Das macht unzufrieden und einsam. Bin ich unzufrieden und einsam, besuche ich einen noch einsameren, einen sehr gefährdeten. Das muntert mich auf. Für meine Zurechtweisungen wähle ich die weichsten Wörter um vorsätzlich zärtlich zu sein. Natürlich durchschaut er das.
Die Stille dann. Wie zwischen der Hand und dem Messer kurz nach der Tat.

Als Kind habe ich Mutters Blumen geköpft. Habe gefangene Vögel durch die Löcher des Schachtdeckels gestopft und ihnen im Güllenloch, in dieser vergasten Hölle, beim letzten Flug zugeschaut bis sie bewusstlos in der Kuhpisse und Scheisse krepierten.Den Kühen habe ich mit der Luftpistole in die prallen Euter geschossen. Wie vom Affen gebissen sind sie über die Felder.

Etwas nötigt mich zur Gewalt.

Vor einigen Tagen setzte eine Verschlimmerung ein. Keine Freundlichkeit will mir mehr gelingen. Dann geschah die Sache mit dem Blinden. Seine Hände steckten in den Hosentaschen als mein Fuss in seinen Lauf. Kiesplatz. Sein Schlittern. Es hat mir wirklich Freude bereitet.

Aber diese Geschichte taugt nicht, als dass ich sie für meine eigene halten könnte.
Bitte entschuldigt. Meine Phantasielosigkeit lässt mich auf der Oberfläche treiben wie ein Stück Holz, das vergessen hat woher es kam. Ich möchte jetzt ehrlich sein zu euch.

Liebes Publikum
Ich lebe über meine innere Verhältnisse. Ich bin ein Hochstapler. Und an dieser Stelle bitte ich um einen Vertrauensvorschuss. Und gestehe: Ich stehle fremde Gedanken und lege sie mir um, als wären es meine eigenen. Auch für diesen Text habe ich gestohlen. Eine Stelle aus Valerys «Idée fixe». Als Einstieg. In etwa so:

Liebes Publikum
Ich stehe in argen Qualen: bohrende Gedanken setzen mir zu und verderben mir alles übrige an Geist und Welt. Nichts kann mich von meinem Übel ablenken, dass ich zu ihm nicht nur noch verzweifelter zurückkehrte. Mein Gehirn ist ein Mistbeet für eine Unzucht von Fragezeichen.

Aber liebes Publikum, ich möchte das nicht mehr! Ich möchte meine eigenen Gedanken. Warum fürchte ich mich so sehr davor? Denken ist gefährlich. Gedanken werden Wörter. Wenn Wörter über Lippen gehen, fallen sie in die Hände. Hände sind grob und dumm, sie machen mit den Wörtern was sie wollen. Sie legen Feuer, ziehen den Abzug, fällen die Bäume, sie…

Wisst ihr, manchmal bin ich geradezu froh um meine Gedankenlosigkeit, starre abwesend in eine Richtung, auf mich selbst beschränkt ohne Verlängerung nach Aussen. Narrenkasten. Gleichgültigkeit.

Sind die Tage schlimm, sind es auch die Einbildungen. Ich denk mir dann, dass es vielleicht wichtig ist, einen Gedanken nicht zu denken, nicht zu haben, damit ihn jemand anderes haben kann. Dass man gewissermassen auserwählt sein muss einen Gedanken zu denken, ihn zu Wörtern werden zu lassen, zu freundlichen Worten, zärtlichen, die die Hände besänftigen um das Feuer nicht zu legen, den Abzug nicht zu ziehen, die Bäume nicht zu fällen.

Vielleicht aber lege ich mir so nur meine eigene Faulheit zurecht. Meinen Narrenkasten.
Meine Gleichgültigkeit – sollte nicht alles gleich gültig sein? Wäre das nicht die Voraussetzung für…ja für was? Und dann denke ich, vielleicht bin ich ja einer der von sich selber keine Ahnung hat und diese Ahnungslosigkeit anhand der Dinge die er betrachtet rechtfertigen möchte indem er allem die gleiche Bedeutung beimisst. Wisst ihr, diese Gleichgültigkeit macht mich sehr traurig, und es hilft dann auch nichts, einen noch traurigeren zu besuchen. Es hilft dann gar nichts mehr. Und ich werde neidisch auf die Wirklichkeit der anderen, die schon das eigentliche Leben leben, während bei mir alles immer noch nur Vorbereitung und Provisorium ist.

Aber hier und jetzt verspreche ich euch hoch und heilig:
Einmal will ich allen Mut zusammennehmen und richtig anfangen zu denken, mit einem Geschichtsbewusstsein. Einmal will ich meine Empfindungen zu nützlichen, verwendbaren Empfindungen werden lassen, mit denen doch andere so etwas machen wie die Dinge anpacken. Einmal will ich meine Ansichten bündeln und öffentlich einsetzen, anstatt sie wie Splitter in mir herumtragen, wie etwas Teures, Behütetes, das sofort an Wert verlöre. Ich verspreche euch, ich werde die zärtlichsten Wörter finden, damit die Hände ja keinen Scheiss bauen.


Aber genügt das?
Hier geht es um Geständnisse. Geständnisse kommen nicht dahin wo die Tatsachen standen, sondern wo sie keinen Boden haben. Ich will mich schämen hier vor euch.

Ich gestehe, dass ich so sehr mit der Beantwortung der Frage beschäftigt bin, wer ich bin und wer ich sein könnte, dass ich keinen Raum mehr habe mich um etwas ausserhalb mir Liegendes zu kümmern.

Ich gestehe: dass es mir kaum mehr gelingt eine weitere Täuschung zu finden, die ich für mein Leben halten könnte. Ein Leben, das anderem Leben nicht schadet.

Manchmal obwohl ich traurig bin, kann ich nicht weinen. Dann Schneide ich Zwiebeln, um meiner Traurigkeit wenigstens körperlich gerecht zu werden.

 

Liebes Publikum
Es gibt Dinge, die man anderen sagen kann und solche, die man nur sich selbst sagen kann und andere die man nicht einmal sich sagen kann. Hier – das wurde mir versichert – kann man alles sagen.

Also sagt es. Gesteht!

Treibt euer Spiel mit dem Geist, mit euren Problemen, Sorgen, mit euren Leiden und eurer Geschichte. Schwimmt herum, jetzt, in dem was ihr nicht wisst mittels dem was ihr wisst.
Und wer in sich nichts zu finden glaubt, grabe tiefer.
Und wer dann immer noch nichts zu finden glaubt, erfinde.

Herzlichen Dank!

* literarische Annäherung an die Ausstellung durch eine Drittperson, wird jeweils an der Vernissage vorgelesen, kann von den Besuchenden gratis mitgenommen werden.

Nancy Peroni-Frei

Geboren 18.02.2023

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Bei Fragen wenden Sie sich
bitte an areggerloris@gmail.com