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Hauptausstellung

Samstag, 06. April 2024–Mittwoch, 08. Mai 2024

«LAST LUST LOST» von Anina Mirjam Schärer

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Für die Ausstellung LAST LUST LOST teilt die Künstlerin Anina Mirjam Schärer den Titel gerecht auf die drei Ausstellungsräume der Galerie auf: ein Raum, ein Wort. Im LAST-Raum finden Werke zusammen, die sich in ihrer Werkhaftigkeit abgeschlossener präsentieren. Der LOST-Raum hingegen beherbergt solche, die von Seitenpfaden, Nebengleisen, Abwegen zeugen. Während des künstlerischen Schaffensprozesses ist es wichtig, sich eröffnende Wege neugierig entlangzugehen. Bei einer solchen offenen Vorgehensweise ist nicht vorauszuahnen, wohin die Pfade führen: zu einem konsistenten Werk, in eine Sackgasse oder auf eine Odyssee? Der LUST-Raum fokussiert auf den Dialog zwischen Bildern. Durch das spielerische Zueinanderführen und Ineinanderfügen von Werken bzw. Werkteilen, die sich gegenseitig kommentieren, ausführen, exemplifizieren und begründen, entsteht ein Geflecht von Verbindungen und Bezügen. Oft ist es das Moment der ‚leichten Abweichung‘ – in Motiv, Farbe, Material, Form, Zeichen etc. – das vom einen zum anderen führt. Es entsteht ein System, das divers geartete Teile in sich aufnimmt und einbettet und den Umgang mit Heterogenität thematisiert.
Die gesamte Installation LAST LUST LOST versteht ‚das Bild’ als das, was sich ereignet, wenn ein Mensch ein visuelles Angebot annimmt und sich aktiv und aufmerksam schauend auf das sich visuell Präsentierende einlässt.

LITERARISCHE VERORTUNG* DURCH Lisa Jakob

Die Kunst spricht zu mir.
Noli me tangere, sagt die Kunst, und wissen Sie, was das heisst.
Wollen Sie es vielleicht googeln, ich habe es auch getan.
Zuerst habe ich Langenthal gegoogelt, um sicherzugehen, dass es nur ein Langenthal gibt.
Mich verfolgte nämlich das Gefühl, es gäbe mindestens zwei und die Gefahren stünden hoch, dass die SBB App mich ins falsche führen würde.
Noli me tangere, sagt die Kunst zu mir mit ausgestrecktem Zeigefinger, und zwinkert mir zu…

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Literarische Verortung zur Ausstellung «LAST LUST LOST»


von Lisa Jakob


Die Kunst spricht zu mir.
Noli me tangere, sagt die Kunst, und wissen Sie, was das heisst.
Wollen Sie es vielleicht googeln, ich habe es auch getan.
Zuerst habe ich Langenthal gegoogelt, um sicherzugehen, dass es nur ein Langenthal gibt.
Mich verfolgte nämlich das Gefühl, es gäbe mindestens zwei und die Gefahren stünden hoch, dass die SBB App mich ins falsche führen würde.
Noli me tangere, sagt die Kunst zu mir mit ausgestrecktem Zeigefinger, und zwinkert mir zu.
Langenthal schlendert, Langenthal raucht und fährt Rad, Langenthal sagt dir, wo's zum Meer geht, Langenthalt treibt zwei schwarze Luftballons auf der Strasse vor sich her, bis ein Elektroauto ihnen lautlos ein Ende mit Knall bereitet.
Behauptung: In Langenthal sind alle Schals selbst gestrickt, in Langenthal spielen alle ein Instrument. In Langenthal scheint immer die Sonne, oder fast. In Langenthal kommen alle irgendwie klar oder sie hängen Lichterketten in den Garten. In Langenthal haben alle Häuser Charme, ausser das, wo C&A draufsteht.
Ich folge Vergissmeinnicht, verblühten Narzissen, Erinnerungen.
Eltern waren da, nicht meine.
Ein Gartenzwerg auf dem Schoss des Vaters mit den Bowlingschuhen, oder ein Kind.

Heute spricht hier die Kunst zu mir, ich soll sie verorten.
Sie sagt Noli me tangere und greift frech nach meiner Hand.

Ich denke das gleiche, wie ich damals dachte: Langenthal also, und folge den logischen Strassen, Gärten, den Blumen, den Rucksäcken und Sportschuhen, den Autos, den Kurven, dem Lärm und der Sonne. Man muss hier nicht wissen, wohin.
Folge den eckigen Hecken, den Schildern zum Zentrum.
Ich folge den Gedanken, ich folge allem möglichen, weil ich in der Beschreibung gelesen habe, dass es um den Prozess geht. Mitunter. So habe ich das verstanden.
Ich folge dem Hund mit der Skibrille, einem kleinen Glücksbringer, einem Gespräch.
Ich folge einem schüchternen Kuss und feiere ein fremdes Wiedersehen.
Ich folge der Taschenbuchaktion, 68 Franken für den haargenau richtigen Haarschnitt, ich ruf dich nachher nochmal an.

Der Geruch sagt, der Boden hier verläuft nicht gerade.
Farben, Flecken, sorgsam verteilt.
2020 hängt hier, haben Sie das bemerkt.
2020 offene Tabs, Screenshots, Onlineshops, wir alle waren dort. Abwesende vor Bücherregalen und anderen surrealen Hintergründen.
2014 zum Beispiel der Fuss.
Was isch das für n e?
Was isch das für n e?
Was isch das für?
2014 sind die Ausdrücke in den Gesichtern die Flecken im Gemüt.
Verzeihung, ich muss das so sagen. Flecken.

I liese sowieso nume de Sportteil.
Wenn ich nicht weiss, was es ist, sage ich Flecken.
Dänn wirds ersch richtig spannend.
Wenn es Farbe ist, sage ich Flecken.
Wenn es Kontur hat, sage ich Flecken.
Wenn ich nicht weiss, was es ist, sage ich Frage.
Welche Rolle die Bibel spielt und was dann geschah.
Dass da Waffen sind und Werkzeuge.
Ich versuchs nochmal.

Folge den Formen an den Wänden, in den Formen Farben, zum Beispiel ein Test.
Welcher Mönch hängt hier? Und baut sie auch Geigen?
Wir haben uns das ganz sanft vorgestellt.
Einige suchen Streit, haben Sie das mitbekommen? Da hinten?
Ich folge dem Boden, den Flecken, wem sonst, den Wänden entlang den Augen den tastenden Händen.
Die Formen sind hier lauter als die Flecken, die Flecken singen erst, wenn sich die Formen schliessen.
Ich befürchte nun, sie baut auch Geigen.
Haben Sie das bemerkt, die Katze ist geflohen, sie lebt nun in einem anderen Blau.
Und das Geweih, haben Sie das beweint? Es liegt nun in Flecken, es bleibt in Grün. Haben Sie das bemerkt, und blau?
Schleifen diese Tests die Zeit, in der sie stattfinden, wimmeln diese Formen das Bild ab?
Wo sind die Rebellen im Raum?
Was haben wir von ihnen zu befürchten?
Und baut sie auch Geigen?
Die Farben, frage ich, sind Schatten. Die Wörter dazwischen sind Räume, eigene, Ängste, echte, bedrängte Zustände vieler Jahre, bis ins Mittelalter. Sind dafür zu leicht. Die Farben sind Flecken, ich kann es nicht anders sagen, und ich meine es wirklich so. Ich will es nicht anders sehen. Der Abstand ist wichtig, für die Flecken, daher noli me tangere, bitte. Ist wichtig für die Flecken, für den Fluss.
Wir kennen uns nicht, aber die Musik ist auch da.
No singing, sagt sie, aber die Musik ist auch da.
Denn, wie ich befürchtet habe: sie baut auch Geigen und gegenüber singen die Flecken den Farben ein Lied.

Ich versuchs nochmal.
Ich folge den Schienen. Sie waren plötzlich da.
Sie baut auch Schienen.
Auf Schienen folge ich dem Raum entlang den Flecken entlang den Wänden entlang den Händen entlang Strichen, Kakteen, die kichern und überhaupt nicht weh tun. Noli me tangere, sagen die Kakteen, noli hihi me tangere.
Streichen die Schienen entlang der Wand, sagt sie, ist das zu kindisch.
Das ist der Bahnhof von Langenthal, sagt ein empörter Blick.
Sie baut auch Gesichter, auch Notizen, nur Notizen, sagt sie, Skizzen, und No singing, sagt sie. Und Stoff. Und Licht.
Zwischen Skizzen und Lippen Schatten im Papier. Flecken, schwarze, und die Angst in den Augen der Gummiente.
Sie baut auch Messer.
Zeichnet die Zukunft, zwischen Kerze und Messer das Licht.
Berühre mich nicht, sagt der Tisch, als ich ihm zu nahe trete. Sagt das Kleid, der Haken im Holz.
Berühre mich nicht auch die Hand, die Hände, die tastenden Flecken im Gelb.
Spricht der Fäustling, verschleiert.
Du, sagt der Finger, und zwinkert dir zu.
Blau kracht in die schwimmen Augen und Nonnen flippen flache Steine ums andere.
Das Foto erklärt blau.
Die dunkle Materie ist doch nicht so stabil, sagen sie. Daher die Blume.
Magnet um Magnet wandert der Stern und zieht mit sich: Postkarten ins Mittelalter.
Trüge ich Turban, hielte ich darin versteckt stets folgendes Werkzeug: Stift, Hammer, Klebeband. Schraubenzieher mit gutem Griff. Briefmarken. Papierfetzen für Notizen, eine kleine Kamera. Postkarten.
Machen die Affen die Dosis oder das Gift? Der hängende Löffel, höre ich. Was?
Der Stoff und die Linien auf dem Boden folgen den Flecken auf Papier.
Vieles ist erkennbar.
Die Gefahren von Kunstwerken, wenn man ihnen zu nahe kommt.
Verschwindet das Ende.
Ich folge den Schienen.
Das ist der Bahnhof von Langenthal.
Hier liegen die Möglichkeiten von Langenthal.
Von hier aus kommt man überall hin, sagt die Schleifpapierscheibe.
Und das sind die Gefahren, sagen die Schienen, die sich stapeln, statt irgendwohin zu führen.
Das muss ich noch anpassen, sagt sie.
Passt das hier hin?
Ja, sagt alles andere.
Warum nicht, sagt alles andere.
Warum nicht.

 

* literarische Annäherung an die Ausstellung durch eine Drittperson, wird jeweils an der Vernissage vorgelesen, kann von den Besuchenden gratis mitgenommen werden.

Anina Miriam Schärer

Anina Mirjam Schärer studierte Vermittlung von Kunst und Design in Basel und absolvierte das Masterstudium CAP in Literarischem Schreiben und Übersetzen in Bern. Sie hat u.a. für das Centre Pasquart (Biel) geschrieben, am Festival Jeunes écrivains (Paris) gelesen und wurde mit dem Publikumspreis des Fumetto Comicfestival (Luzern) ausgezeichnet. Im Herbst 2023 erschien ihr literarisches Debütwerk «Im ausgeschriebenen Haus» bei etkbooks (Bern). Anina Mirjam Schärer lebt in Langnau im Emmental und arbeitet für das dortige Regionalmuseum.